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 Die physiologische Schuldreaktion

Die physiologische Schuldreaktion

Das natürliche schlechte Gewissen und seine Abwehr durch den Straftäter und die Gesellschaft

von

Dr. med. Thomas G. Gabbert

Zusammenfassung

Der Autor postuliert anhand eines Fallbeispiels eine „physiologische Schuldreaktion“ des psychisch gesunden Menschen. Macht sich der Mensch einer Gräueltat schuldig, folgt reaktiv ein schlechtes Gewissen, ein Schuldgefühl, der Täter erinnert sich an die Qualen der Opfer, nimmt ihre Schreie wieder wahr und leidet unter Verfolgungsängsten. Diese Symptome ordnet die Medizin der Depression zu und macht somit aus einer physiologischen Reaktion eine Krankheit. Das hier angeregte Umdenken wirft ein neues Licht auf die Entstehung von Religion und Zivilisation, auf die psychoanalytisch ungeklärte Umwandlung von Angst in Schuldgefühl (Ödipuskomplex) und auf die psychischen Folgen von Kriegshandlungen auf den gesunden Soldaten.

Schlüsselwörter: physiologische Schuldreaktion, schlechtes Gewissen, Schuldgefühl, Schuldprojektion, Selbstbestrafungswunsch, Depression, Verfolgungsängste, Religion, Zivilisation,

1. Die medizinisch bisher nicht beschriebene "physiologische Schuldreaktion"

In der westlichen Wissenschaft herrscht Konsens über die Theorie, dass die Entwicklung von Zivilisation Folge einer Triebentschränkung ist. Schon der Philosoph Thomas Hobbes (1651) beschrieb den Menschen im "Urzustand" als eine Art wildes Tier, das zügellos seine (sexuellen und aggressiven) Triebe auslebte und diese erst durch die Strafandrohung eines herrschenden Regimes zügeln lernte. Die Idee als solche ist bereits bedeutend älter, "homo homini lupus" sagte bereits der Komödiendichter Plautius (ca. 200 v.Chr.). Auch die Psychoanalyse bestätigt diese Hypothese. Freud betrachtet das im Über-Ich verankerte Gewissen als direktes Erbe des Ödipuskomplexes (Freud 1924, S. 351). Triebbeherrschung wird hiernach lediglich als Folge der Strafandrohung der Erzieher (der Kastrationsdrohung des Vaters) angesehen, was Reik, Alexander und Staub übernehmen, die sich als Psychoanalytiker speziell mit dem Strafrecht beschäftigen. Letztere meinen, der Mensch komme als kriminelles Wesen auf die Welt (Alexander und Staub 1928, S. 232) und Triebverzicht werde nur aus Angst vor Vergeltung geleistet (1928, S. 242). Reik beschreibt die Angst, vom Vater gefressen zu werden, als den "Kern der Gewissensangst, der späteren Angst des Ichs vor dem Über-Ich." (Reik 1925, S.109). Allerdings spricht Reik auch vom Unbewussten, das seine seine eigenen Gesetze aus der "Kindheit der Menschheit" übernommen habe (S. 129), was auf den Mitschöpfer der Anthropologie, Lewis H. Morgan verweist, dessen Theorie über diese "Kindheit der Menschheit" (Morgan 1891), die eine kannibalistische Entwickungsphase einschließt, auch von Friedrich Engels übernommen wurde (Engels 1884). Auch aktuelle soziologische Zivilisationstheorien (besonders Norbert Elias, 1939) zeigen für die Kulturentwicklung der Neuzeit auf, dass zunächst eine Triebeinschränkung ("Höflichkeit") stattfand, die sekundär zur Entwicklung von Kultur führte.

Dieser wissenschaftliche Konsens wird jedoch bereits von der Tatsache der endogenen Depression in Frage gestellt. Die Erforschung iher biochemischen Grundlage zeigt, dass schlechtes Gewissen, Schuldgefühl und Strafbedürfnis biochemisch durch Körperfehlfunktionen hervorgerufen werden können (z.B. Serotoninmangel). Das würde bedeuten, dass primär eine genetisch-chemische Bereitschaft für ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühl vorhanden wären und gesellschaftliche Strafmaßnahmen sich ein biologisch präformiertes Gefühl zu nutze machen, um Triebunterdrückung zu erreichen und aufrecht zu erhalten. Zweitens müsste, wenn die Theorie der primären Triebunterdrückung und sekundären Entwicklung von Schuldgefühlen, Ritualen und Religion richtig wäre, das schlechte Gewissen eines Straftäters abhängig sein von dem Ausmaß der triebeinschränkender Maßnahmen des Vaters (der Erziehungspersonen). Ich habe während meiner 30jährigen Berufserfahrung mit Straftätern (und Geisteskranken) jedoch immer wieder das Gegenteil erlebt: Gewalttäter haben nach dieser Erfahrung in der Regel keine triebeinschränkende Erziehung genossen, sondern waren eher verwahrloste Kinder. Sie dürften, wenn diese Theorie richtig wäre, also kein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühl haben. Dies traf jedoch nur in Ausnahmefällen zu, nämlich bei psychisch auffälligen gefühlkalten Tätern. Der psychisch gesunde Schwerkriminelle verfügt jedoch erfahrungsgemäß über die Fähigkeit, Schuldgefühl zu entwickeln, hat ein Strafbedürfnis und hat insbesondere einen Wunsch nach Wiedergutmachung der Tat. So begutachtete ich einen Mörder, der in seiner Zelle versuchte, aus Vogeleiern mit Hilfe einer Lampe (Wärme) Küken auszubrüten, was mir als Beispiel für diesen Wiedergutmachungswunsch des psychisch gesunden Mörders in Erinnerung blieb.

Ich vertrete hier also die Gegentheorie, dass nämlich schlechtes Gewissen und Schuldgefühle eine natürliche physiologische Tatfolge beim psychisch gesunden Menschen sind, der ein Kapitaldelikt begangen hat, und zeige dies anhand eines Falles von extremer Grausamkeit. Diese Theorie eines natürlichen Gewissens, das angeboren und nicht anerzogen ist, wirft auch ein neues Licht auf die Entwicklung des Urmenschen zum Kulturmenschen. Wäre nämlich das schlechte Gewissen eine natürliche Reaktion auf die Begehung grausamer Taten, dann wäre die Entwicklung von Religion und Kultur eine natürliche Folge des Kannibalismus in der "Kindheit der Menschheit" und nicht Ergebnis einer Triebbeherrschung aufgrund von Strafandrohungen, wie Sigmund Freud, die Philosophie vor ihm und die Soziologie nach ihm annehmen. Die Begründung von Religion und staatlichen Gewaltmonopols, ohne dieses würden alle Menschen ihren Tötungsimpulsen freien Lauf lassen, wäre hinfällig.

2. Fallbeispiel, Verbrennung und Erschießung Unschuldiger im Bürgerkrieg

Es kommt ein 44-jähriger Deutscher mit Migrationshintergrund zur Untersuchung seiner Haftfähigkeit, weil die behandelnden Ärzte eine Depression mit psychotischen Symptomen (ICD 10: F32.3) diagnostiziert und Haftunfähigkeit bescheinigt haben. Er leide an Schuldgefühlen, höre schreiende Frauen und sehe brennende Kinder. Die Exploration ergibt zur Kindheit, dass Vater früh verstarb. Mutter gab ihn 5jährig zum Onkel und ging nach Deutschland. Er litt unter diesem Onkel und dessen Söhnen, für die er u.a. die Schuhe putzen musste. Eine triebunterdrückende Erziehung konnte jedoch nicht festgestellt werden.

Bei unseren Untersuchungen von Beschuldigten und Tätern im Auftrag der Berliner Strafgerichte ist die Regel, dass dieses Patientenklientel keine Erziehung hatte, die von Onanieverbot und Kastrationsdrohung (Freuds „Ödipuskomplex“) gekennzeichnet war, sondern dass die Kindheit eher von Vernachlässigung geprägt war. Das Verhalten der Eltern ist selbst eher durch Triebdurchbrüche, wie Aggressionen und Alkoholmissbrauch, gekennzeichnet und es war ihnen mehr oder weniger gleichgültig, ob ihre Kinder Triebbeherrschung erlernen.

Seine Mutter holte ihn nach Berlin, als er die 1. Schulklasse besuchte, die er dann hier wiederholen musste. Der intelligente Junge erreichte keinen Schulabschluss und eröffnete 18-jährig ein Cafe, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestritt.

Auch diese schulisch-berufliche Entwicklung ist bei unserem Klientel die Regel. Die männlichen Kinder aus eingewanderten Familien, besonders mit moslemischem Glaubenshintergrund, sind in der Schule eher triebuntersteuert, fallen insbesondere durch aggressives Verhalten den Mitschülerinnen und Lehrerinnen gegenüber auf, können sich auch während des Unterrichts nicht beherrschen, konzentrieren sich nicht und nehmen eine Entwicklung zum Leistungsversager. Ganz anders entwickeln sich in der Regel die Mädchen aus diesen Familien.

Der sportliche, kräftige junge Mann ist keinesfalls aggressionsgehemmt, sondern aggressiv durchsetzungsfähig und bietet den aus einem anderen Land eingewanderten Schutzgelderpressern Paroli. Zur Warnung wird ihm ein Schuss in den Fuß versetzt. Nach der Heilung verlässt er 20-jährig Deutschland und geht in seine europäische Heimat, wo er seinen „Wehrdienst“ macht und sofort in den Kriegseinsatz kommt. Es herrscht Bürgerkrieg, im Häuserkampf bewährt er sich und tötet einige Feinde. Auch an Vergewaltigungen von Frauen beteiligt er sich, dies sei ein Gruppenzwang gewesen. Eines Tages fährt er mit seiner Einheit, die in 3 Lastwagen passt, in feindliches Gebiet in einem anderen Stadtbezirk, wo die Bewaffneten etwa 100 Personen zusammentreiben. Die Männer der gegnerischen Zivilisten werden in den nahe gelegenen Wald abgeführt, um dort erschossen zu werden, die zurückgebliebenen Frauen, Kinder und Alten werden bei lebendigem Leib vor Zuschauern angezündet, verbrannt, erschossen und verscharrt. Kurze Zeit darauf desertiert er, besorgt sich einen neuen Pass mit etwas anderem Namen und kehrt nach nicht ganz einem Jahr zurück nach Berlin zu seiner Mutter. Hier verfolgen ihn seine Schuldgefühle: er schläft schlecht, die Bilder der brennenden Kinder lassen ihn nicht los, er hört die Schreie der Kinder und der Frauen. Er traut sich nicht aus der Wohung, hat in der Öffentlichkeit Angst, befürchtet überfallen zu werden. Er besorgt sich Drogen und beteiligt sich am Drogenhandel. Er eröfffnet eine Videothek und später eine Diskothek, für die er eine Freundin als Geschäftsführerin einsetzt. Die Diskothek, die gern von Osteuropäern besucht wird, schließt er bald wieder. Inzwischen legt ein Drogenhändler, mit dem er zusammengearbeitet hatte, eine Lebensbeichte ab und belastet ihn, so dass er wegen der inzwischen etwa 10 Jahre zurückliegenden Drogendelikten, die er nach seiner Rückkehr aus dem Kriegsgebiet begangen hat, zu einer Haftstrafe von 5 Jahren verurteilt wird. Die Untersuchungshaft beendet seine berufliche Karriere. Da die Drogentaten so lange zurück liegen, kommt er jedoch nach der Urteilsverkündung wieder auf freien Fuß. Nun setzen seine Verfolgungsängste wieder ein, er sieht wieder die schreienden Kinder, die er angezündet hat und Erinnerung an die jammernden Frauen setzt wieder ein. Jetzt geht er auf Anraten seines Verteidigers zum Psychiater. Er wird antidepressiv medikamentös behandelt. Es wird eine 2-jährige tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie für erforderlich gehalten, woraufhin er die Psychotherapeutin wechselt. 40 Stunden Psychotherapie werden nun genehmigt, er beantragt Haftverschonung und kommt zur Untersuchung auf Haftfähigkeit.

Der gängigen Theorie folgend, dürfte der wegen Drogendelikten Verurteilte gar keine Schuldgefühle und Depressionen wegen seiner Kriegsverbrechen haben, denn er konnte mit Erlaubnis seines Vorgesetzten ungehemmt seine sexuellen und aggressiven Wünsche befriedigen, Frauen vergewaltigen und Kinder verbrennen und erschießen. Auch nach diesen Taten, die inzwischen 16 Jahre zurück liegen, wurde er nie deswegen angeklagt und natürlich auch nicht verurteilt, es wurden ihm also keinerlei Vorwürfe gemacht. Die Ärzte handeln nun entsprechend der ICD-Nomenklatur, die Störungen nach Symptomen und deren Dauer ohne Berücksichtigung der Ursache einteilt und keine physiologische Schuldreaktion kennt, die nach Sühne für die böse Tat verlangt, und diagnostizieren hier eine Depression mit Verfolgungswahn und Halluzinationen. Der Täter schrecklicher Taten, deren Unmenschlichkeit offensichtlich zu Schuldgefühlen beim Täter führt, wird von der Medizin quasi gleich gesetzt mit einem Depressiven, der als Folge belastender Opfererfahrungen ähnliche Symptome aquirieren könnte. Möglicherweise fürchtet sich der hier untersuchte Täter auch real vor der Rache der Angehörigen seiner Opfer. Er entwickelt jedenfalls Verfolgungsängste. Möglicherweise handelt es sich hierbei auch um eine Projektion seiner Selbstbestrafungswünsche, er traut sich nicht mehr aus der Wohnung. Die behandelnden Ärzte erwähnen in ihren Attesten die Herkunft dieser Depression nicht, auch nicht den Alkohol- und Drogenmissbrauch des Täters und attestieren ihm Haftunfähigkeit. Ob beim Antrag auf Kostenübernahme für die psychotherapeutische Behandlung auf die Ursache der Beschwerden hingewiesen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Die Suchtproblematik ist offensichtlich weiterhin aktuell. Herr S. berichtet über seinen Mittelmissbrauch nach Rückkehr aus dem Kriegsgebiet in Zusammenhang mit seinen Verfolgungsängsten beim Verlassen der Wohnung, gibt jedoch an, nunmehr lediglich die ärztlich verordnete Medikation einzunehmen. Als während der Exploration dann starke Kopfschmerzen auftreten, gegen die der Untersucher keine Mittel zur Verfügung hat (wir sind lediglich gutachterlich tätig, haben jedoch keine therapeutischen Aufgaben), holt er aus seiner Hosentasche Diazepam-Tabletten hervor, die er bei Kopfschmerzen nehme. Offensichtlich besteht also aktuell ein Tranquilizer-Missbrauch, den seine behandelnden Ärzte in ihren Attesten zur Haftunfähigkeit nicht erwähnen. Im körperlichen Befund fällt eine starke Verlangsamung auf und eine druckschmerzhafte Verdickung des rechten Handrückens (Rechtshänder) mit regional begrenzter Sensibilistätsstörung und Kraftminderung. Er berichtet, dass er im Bürgerkrieg zunächst nicht schießen wollte. Sein Vorgesetzter habe im daraufhin mit einem Schlag des Gewehrkolbens womöglich mehrere Mittelhandknochen gebrochen. In ärztliche Behandlung habe er sich nicht begeben dürfen. Eine Narbe im Bereich der rechten Stirn erklärte er mit einem tatsächlichen Überfall nach Rückkehr nach Deutschland, den er jedoch den Schutzgelderpressern (die einer anderen Ethnie angehören als seine Kriegsopfer) zuordnet: er sei plötzlich von einer Gruppe Unbekannter angegriffen worden, einer habe ihm einen Porzellanaschenbecher auf den Kopf geschlagen, ein anderer habe ihm einen Stich in den rechten Bizeps versetzt, dann sei die Gruppe geflüchtet. Derartige tatsächliche Erfahrungen können Verfolgungsängste verstärken. Er entwickelt danach eine leichte Zwangssymptomatik. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass er zum Untersuchungszeitpunkt weiterhin bei seiner Mutter wohnt, die ihn seit der Kriegsrückkehr versorgt und Mitleid mit ihm hat, weil er an Schuldgefühlen leide, seinen kleinen Bruder umgebracht zu haben: kurz vor seiner Einschulung verstarb sein 6 Monate alter Bruder an einer Ernährungsstörung. Mutter musste arbeiten gehen und hatte ihn beauftragt, auf den kleinen Bruder aufzupassen und ihn zu füttern. Nach dessen Tod habe der Arzt ihr aber gesagt, er sei nicht zu retten gewesen.

Ob diese Schuldgefühle nun berechtigt waren, kann nicht geklärt werden. Möglicherweise benutzte er diesen Vorfall aus der frühen Kindheit, um sich seiner Mutter gegenüber zu erklären, ohne ihr von seinen Gräueltaten im Krieg etwas erzählen zu müssen. Sie begleitete ihren Sohn zur Untersuchung, weil er wegen seiner Verfolgungsängste nicht allein das Haus verließ, und begrüßte den Arzt mit dieser Schilderung der unberechtigten Schuldgefühle, an denen ihr Sohn leide.

3. Die individuelle Abwehr des schlechten Gewissens

3.1. Die Abwehr nach der Tat: die Schuldprojektion

Schwere Verbrechen belasten das natürliche Gewissen des Täters und führen zu Schuldgefühlen und Depressionen, was ich hier als die "physiologische Schuldreaktion" bezeichne. Der unbestrafte Täter empfindet schlechtes Gewissen bzw. Schuld und versucht im ersten Akt, seine Schuld durch Verdrängung abzuwehren. Er wehrt nicht, wie der Neurotiker, verpönte Triebimpulse und die mit ihnen aufgrund der Kastrationsdrohung verknüpfe Angst ab, sondern das aus der Befriedigung aggressiver Wünsche resultierende Schuldgefühl. Es gibt einige evolutionär-genetisch präformierte Gefühlsqualitäten, wie Angst, Lustgefühl, aber auch schlechtes Gewissen/Schuldgefühl, die eine körperlich-biochemische Grundlage haben. Unangenehme Gefühle werden gern durch von Freud beschriebene Abwehrvorgänge von der Bwusstwerdung ferngehalten. Der bevorzugte Abwehrmechanismus bei derartigen nicht neurotisch gehemmten, sondern an Triebdurchbrüchen leidenden Tätern ist die Schuldprojektion, was bereits von Staub und Alexander (1928) beschrieben wurde. Dies sehen wir auch bei minder schweren Fällen. Der Täter meint, das Opfer trage die Schuld an seiner Tat, z.B.: meine Mutter provozierte mich, da musste ich zuschlagen. Meine Frau schrieh, da musste ich zudrücken (sie würgen). Ich wurde angegriffen und musste mich verteidigen. Oder ein Dritter trägt die Schuld: mein Mann gibt mir zu wenig Haushaltsgeld, deshalb muss ich stehlen. Oder das Objekt hat Schuld: die Banane lag da so einladend in der Auslage, deshalb musste ich zugreifen. Oder ein Begleitumstand ist schuld: der Alkohol. Derartige Schuldprojektionen sind oft "erfolgreich". Können sie allerdings  aufgrund der Reaktion der Angehörigen  nicht mehr aufrecht erhalten werden, stellen sich psychosomatische Beschwerden ein (z.B. Bluthochdruck, Herzbeschwerden oder Kopfschmerzen) oder Depressionen (Schlafstörungen, trauriger Verstimmung, Konzentrationsstörungen usw.). Eine derartige Symptomatik wird häufig auch dann manifest, wenn die Tat ans "Tageslicht" kommt, wenn beispielsweise ermittelt wird und der Täter eine Bestrafung befürchtet (was hier nicht der Fall war). Treten dann psychosomatische Beschwerden oder eine Depression in Erscheinung, weil die Schuldabwehr nicht mehr ausreicht, werden diese Beschwerden gern – mit Unterstützung der Rechtsanwälte – angeführt, um die Verhandlungsfähigkeit in Zweifel zu stellen. Dass derartig verursachte Depressionen auch von namhaften forensischen Psychiatern zur Begründung einer Verhandlungsunfähigkeit herangezogen werden, weil beispielsweise (kurz gesagt) Konzentrationsstörungen den Angeklagten hindern könnten, dem Verlauf der Verhandlung zu folgen (usw.), erleben wir sogar bei namhaften Gutachtern.

Ziel der gut geführten Gerichtsverhandlung ist u.a. immer, den Täter zu einem offenen Geständnis zu bewegen, frei von taktischen Überlegungen. Dies gelingt in der Regel ohne Rechtsvertreter besser, da diese ihre Aufgabe sehr oft falsch verstehen. Im offenen Geständnis bekennt der Täter seine Schuld und kann sein Schuldgefühl zeigen. Das taktische Geständnis nach anwaltlicher Beratung hingegen hinterlässt weiterhin latente Schuldgefühle, die eine pathologische Wirkung in der Psyche des Täters entfalten.

Das Fallbeispiel wurde nun auch deshalb gewählt, weil hier die Gräueltaten persönlich ausgeführt wurden. Dies erfolgte zwar auf Befehl oder als "Gruppenzwang", der physiologischen Schuldreaktion ist dies jedoch sozusagen "gleichgültig". Die Abwehroperation des Täters, er habe dies gar nicht gewollt, sondern es sei ihm befohlen worden (Schuldprojektion), gilt nur im ICH, das sich hier auf das Über-Ich berufen kann. Entscheidend ist jedoch die Bewertung des Unbewussten, die biologisch ist und ein genetisches Erbe der Evolution darstellt. Der Täter hat die Tötungshandlungen vollzogen, selbst optisch und akustisch mit seinen Sinnen wahrgenommen und im Gedächtnis gespeichert. Abwehroperationen des ICHs (z.B. Schuldprojektion) können zwar möglicherweise die Bewusstwerdung des schlechten Gewissens verhindern, nicht jedoch das Wissen um die Tat löschen. Dieses verbleibt im Gedächtnis und führt zu Erinnerungen, die spontan auftreten können. Hierbei handelt es sich nicht um Wahrnehmungsstörungen, wie in diesem Fall von den behandelnden Ärzten so interpretiert. Auch die Kriterien des Wahns, dass es sich um ein Fehlurteil handeln solle, von dem der Betreffende überzeugt ist, sind hier nicht erfüllt, denn Rachegefühle und –aktionen der überlebenden Angehörigen wären durchaus denkbar.

Der Abwehrmechanismus der Schuldprojektion setzt voraus, dass die Tat wahrgenommen wurde. Effektiver wäre jedoch ein Abwehrmechanismus, der die Wahrnehmung der Tat vermeidet (s.u.).

Ein zusätzliches Mittel zur Abwehr von berechtigten Schuldgefühlen ist im Übrigen die Einnahme enthemmender Substanzen (Alkohol) des Tatausführenden. Dies wird individuell beim aggressiv ungehemmten nach der Tat eingesetzt, aber auch kollektiv prophylaktisch bei Frontsoldaten.

3.2. Die vorverlagerte Schuldabwehr (die Abwehr vor der Tat)

Es mag zunächst seltsam klingen, aber die beste Prophylaxe gegen das physiologische Schuldgefühl ist die Vermeidung schwerer Straftaten. Nach meiner These hat nämlich der psychisch Gesunde eine angeborene Hemmung, einen Mitmenschen, egal welcher Staatszugehörigkeit oder Religionszugehörigkeit, zu töten und bedarf daher keines äußeren Tötungsverbots. Das religiöse und das weltliche Tötungsverbot mit Strafandrohungen sind für den Normalmenschen nicht der Grund, keinen Mitmenschen zu töten. Diese Verbote unterstützen lediglich diese angeborene Tötungshemmung. Der Gesetzgeber trägt dem in der BRD auch Rechnung, nämlich indem er die Gewissensentscheidung als Grund für die Verweigerung des Wehrdienstes gelten lässt. Im Krieg wäre es die Aufgabe des Individuums, Mitmenschen anderer Staatsangehörigkeit zu töten. Dass dieser Tötungsakt ein schlechtes Gewissen hinterlässt, wird zwar anerkannt, seltsamer Weise muss der Wehrdienstverweigerer dies jedoch mit religiösen Motiven begründen, so als wenn dieses schlechte Gewissen Folge religiöser Erziehung wäre. Der Normalmensch tötet demnach nach staatlicher Meinung grundsätzlich ohne Gewissensbisse. Aus meiner Sicht ist diese Unterstellung eine Missachtung des gesunden Denkens und Fühlens.

4. Die gesellschaftliche Ebene

4.1. Die Schuldprojektion

Staatliche Propaganda, die den zukünftigen Kriegsgegner herabsetzt, zum Untermenschen stempelt und als minderwertig bewertet, ist wohl jedem Leser sehr gut bekannt. Dies ist sogar eine vorverlagerte Schuldprojektion. Jeder Gewalt anwendende Gesellschaft ist stets bemüht, den Angegriffenen als Verursacher des Angriffs darzustellen. Die Geschichtsschreibung besteht mehr oder weniger darin, dass der Sieger eines Krieges den Verlierer als Verursacher abstempelt, das gehört zur Definitionsgewalt des Siegers, an die wir uns gewöhnt haben. Es handelt sich jedoch psychodynamisch betrachtet um nichts anderes, als um eine kollektive Abwehr des Schuldgefühls der Sieger, die selbstverständlich im Ergebnis mehr, effektiver oder besser gemordet haben, sonst hätten sie ja nicht den Sieg errungen.

4.2. Die vorverlagerte Abwehr von Schuld

Grausame Taten gegen den Artgenossen (Mitmenschen), die nach meiner Hypothese natürlicherweise zu Schuldgefühlen führen, wurden schon immer im Krieg begangen. Deshalb fällt auch hier – im Großen – die Schuldprojektion ins Auge: Schuld habe der Gegner, ist die Begründung jedes angreifenden Staats.

Der Schuldreflex bzw. die Schuldreaktion, bei der es sich um einen Komplex von Gefühlen (Ängsten) und Erinnerungen handelt, stört den direkten Tatausführnden (den Frontsoldaten), weil er sie nach Tötung eines Artgenossen zu erwarten hätte. Die Tötung des Mitmenschen fiele ihm leichter, wenn er den Sterbenden und seine Qualen nicht sähe.

An der Entwicklung der Tötungswerkzeuge und –maschinen im Rahmen der Zivilisation des Menschen lässt sich sehr leicht zeigen, dass die realen Qualen der Opfer immer weiter aus dem Blickfeld und dem Hörbereich des Täters entschwinden, das wäre eine Vorverlagerung der Schuldabwehr. Bereits der Speer vergrößert die Distanz zwischen Täter und Opfer erheblich, der mit Hilfe eines Bogens abgeschossene Pfeil vergrößert diese Distanz weiterhin, die Armbrust noch mehr, das Gewehr zusätzlich, die nicht zufällig von den Deutschen im Nationalsozialismus entwickelte Raketentechnik stellt die Vollendung dieser Entwicklung dar, da die Schreie der Opfer und die Ansicht der brennenden Menschen nun vollständig außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Täters liegt. Da der Täter die Folgen seiner Tat real nicht mehr wahrnimmt, ist diese Abwehroperation nahezu perfekt, denn das nicht Wahrgenommene kann selbst das Unbewusste nicht belasten. Was nicht wahrgenommen wurde, kann auch nicht durch Erinnerungen das Wohlbefinden des Täters beeinträchtigen. Es bleibt allerdings ein Wissen um die Tat. Der Täter hat auch ein Interesse, den Erfolg seiner Tat zu kennen. Dafür werden andere technische Produkte entwickelt, die ihm inzwischen die Folgen der Tat in weiter Entfernung über optische Geräte und Satteliten bis auf seinen Bildschirm am heimischen Herd liefern. Die Tat und deren Erfolg sind der Wahrnehmung entfremdet, vor allem die Gefühlsbeteiligung, der Affekt, ist optimal abgewehrt. Die Realität der Qualen menschlicher Opfer kommt lediglich virtuell auf einem Bildschirm zur Wahrnehmung und ist von einem Kunstprodukt (einem "Film") nicht mehr unterscheidbar.

Den gleichen Abwehreffekt hat die menschliche Zivilisation auch bereits vor der Entwicklung der Technik durch eine andere Methode erreicht, nämlich durch die Einführung der militärischen Hierarchie. Die Trennung von befehlsgebenden und befehlsempfangenden Individuen hat psychische Vorteile für beide Seiten. Der Befehlsgeber muss die Tatfolgen nicht persönlich wahrnehmen (=vorverlagerte Abwehr) und der Befehlsempfänger, der vor Ort auf dem Schlachtfeld tätig ist, muss die Befehle nicht verantworten (=Schuldprojektion). Letzteres ist jedoch bei schweren Delikten wenig wirksam, wie mein Fallbeispiel zeigt. Dem Unbewussten ist die tatsächliche Wahrnehmung entscheidend und nicht die psychische Abwehr, die den tötenden Soldaten damit entschuldigt, dass er "nur" Ausführender des Willens der Gemeinschaft sei.

Nun habe ich hier der Entwicklung von Fernwaffen einen tiefenpsychologischen Sinn (Entfernung des Tötungsvorgangs aus der Wahrnehmung) unterstellt, und diese Unterstellung bedarf einer Begründung. Grundsätzlich handelt es sich übrigens um den gleichen Vorgang externalisierter Abwehr, den jeder fleischverzehrende Mensch vornimmt, der den Akt der Tötung des Tiers, das er verzehrt, gern einer Berufsgruppe (dem Schlächter) überlässt. Dieser Abwehrvorgang wird natürlich nicht aufgrund eines bewussten Entschlusses vorgenommen, sondern er ist Nebenprodukt eines bewussten Vorgangs, der, wenn meine Hypothese stimmt, aus einer natürlichen genetisch programmierten Verhaltensweise hervorgeht. Dazu muss ich fachübergreifend auf anthropologische Erkenntnisse zurückgreifen.

5. Die evolutionär-anthropologische Ebene.

5.1. Die evolutionäre Herkunft der physiologischen Schuldreaktion und die Entwicklung von Religionen (Ungeschehenmachen, Wiedergutmachung)

Es ist also die Frage zu beantworten, in welchen Fällen die "physiologische Schuldreaktion" als primäre Reaktion biologisch sinnvoll auftrat. Sie sollte also einen evolutionären Sinn haben.

Bei Tötungshandlungen kann man bereits im Tierreich im Rivalenkampf eine Beißhemmung beobachten, die das überlegene Tier reflektorisch an der Tötung des unterlegenen Rivalen hindert, wenn dieser die Kehle zum Biss anbietet. Der Mensch ist mehr noch als das Tier in der Lage, reflektorisch auftretende Handlungsimpulse zu unterdrücken. Das Recht hat dies erkannt und begründet damit den freien Willen als Voraussetzung des Strafrechts. Diese Hemmungsmöglichkeit betrifft nun auch die Beißhemmung, die natürliche Hemmung, den Artgenossen zu töten. Da alle Menschen einer Art angehören, würde dieser Reflex bei Übertreten der Beißhemmung bei der Tötung jedes Mitmenschen auftreten. Es hat zwar biologische Vorteile, wenn das stärkere Tier seine Gene durch den Geschlechtsakt, der dem Rivalenkampf folgt, vermehrt, aber es hat auch Vorteile für die Art, wenn das unterlegene Tier weiterhin einen Nutzen innerhalb einer Gemeinschaft erfüllen kann, vielleicht ist es geschickter im Bau von Verteidigungsanlagen oder hat einen besseren Geruchssinn zur Früherkennung von Feinden usw.. Bestimmte Fähigkeiten des im Rivalenkampf unterlegenen Tieres können für die Erhaltung der Art nützlich sein. Das wäre der evolutionäre Hintergrund dieser Beißhemmung. Um diese wirksam werden zu lassen, muss die Natur auch "Strafen" für den Fall der Nichteinhaltung vorgesehen haben. Und diese "Strafe" bestände hier also nicht in einem körperlichen Schmerz, sondern in einem seelischen Schmerz, der sich beim Menschen als Schuldgefühl oder schlechtes Gewissen zeigt, wenn er den Artgenossen, nämlich den "Bruder" tötet. Dieses Schuldgefühl ist also primär als Reflex auf die Übertretung der Beißhemmung vorhanden und nicht durch Erziehung erlernt. Durch Erziehung kann das physiologische Schuldgefühl lediglich mit Handlungen verknüpft werden, die gesellschaftlich nicht gewollt sind, wie zu Freunds Zeiten die Onanie oder mit anderen einer gesellschaftlichen "Zensur" unterliegenden Verhaltensweisen. Diesen Mechanismus hat Pawlow bereits mit seinem "bedingten" Reflex gezeigt, bei dem das Hungergefühl, gemessen am Speichelfluss des Hundes, anstatt mit dem Futterangebot mit einem Klingelton verknüpft wird. Bestimmte Gefühlsreaktionen, wie Angst, sexuelle Lust oder auch Schuldgefühl, sind evolutionäres Erbe. Sie können lediglich durch Übung und Lernprozesse durch gesellschaftlich gewollte Bedingungen ausgelöst werden.

Der bewusste Grund für die Entwicklung von Fernwaffen war nicht die Kriegsabsicht, sondern die Sicherung der Ernährung, wobei hier nicht die kannibalistische Ernährung, die in Urzeiten in Hugersituationen denkbar war (Morgan 1877) und anthropologisch angenommen wird, gemeint ist, sondern selbstverständlich die Energieersparnis bei der Jagd nach Tiernahrung. Die Energieersparnis als Grund für die zivilisatorische Entwicklung des Menschen hat bereits Wilhelm Ostwald, der Begründer der Biochemie, hervorgehoben (Ostwald 1909). Der Mensch spart Energie, wenn er ein Tier mittels eines Speers erlegt, anstatt ihm hinterherzurennen, Die Schusswaffe verringert diesen Energieaufwand weiterhin usw.. Bei technischen Entwicklungen geht es also in erster Linie um die Lösung des Problems, mit weniger Energieaufwand ein größeres Jagdergebnis zu erreichen. Es geht bei der Waffenentwicklung also um die bessere Sicherung der Ernährung, um das Überleben. Dass das Ziel in immer größerer Entfernung getroffen werden kann, ist ein Nebeneffekt. Und es ist natürlich ein Nebeneffekt, dass anstelle der Tiernahrung bei Hungersnöten in der Urzeit des Menschen auch ein anderer Mensch (des Nachbarstammes) als Ziel in Betracht kam. Die Folge wäre das Einsetzen der von mir postulierten Schuldreaktion. Das mit ihr einsetzende schlechte Gewissen versuchte der Urmensch mittels Ritualen zu bekämpfen. Freud, der sich dabei auch auf die Anthropologie beruft, sieht den Sinn dieser Rituale ganz richtig in der Wiedergutmachung, dem Ungeschehenmachen der Tat. Ich stimme ihm auch darin zu, dass sich aus diesen ursprünglichen Ritualen die Gottesreligionen entwickelt haben. Ein übernatürlicher Gott wird erfunden, um die böse Tat, die nicht rückgängig gemacht werden kann, zu verzeihen. Dem Täter, der tätige Reue zeigt, wird vergeben. Allerdings folge ich Freud nicht in seiner Ansicht, dass der Vatermord durch die Gemeinschaft der Brüder ausschlaggebend war, sondern ich meine, es war der Brudermord, der Mord am Artgenossen, der die physiologische Schuldreaktion ausgelöst hat. Diese war also primär und sekundär ist die Erfindung der Götter, die derartiges widernatürliches Handeln verzeihen können und damit die Psyche entlasten.

5.2. Die Vermeidung von Schuld (vorverlagerte Schuldabwehr)

Die Entwicklung der Zivilisation (Ackerbau und Viehzucht) kann im übrigen auch als eine kollektive Vorverlagerung der Abwehr dieser physiologischen Schuldreaktion interpretiert werden. Anstatt in Zeiten von Nahrungsnot einen Artgenossen zu töten und kannibalistisch zu verspeisen, kann dem vorgebeugt werden durch die Einführung von Viehzucht und Ackerbau. Durch die Verbesserung des Nahrungsangebots konnten mehr Menschen ernährt werden, so dass Brudermord und nachfolgende Schuldreaktion durch den zivilisatorischen Fortschritt vermieden wurden.

Dies führt uns zu einem weiteren Mechanismus der vorverlagerten Abwehr von natürlichen Schuldgefühlen, der Ideologisierung. "Ideologisierung" dient aus der Sicht der Psychoanalyse u.a. der Abwehr von Minderwertigkeitsgefühl (Adler 1928). Beispielweise macht der sexuell Gehemmte aus der Not eine Tugend, indem er er sexuelle Enthaltsamkeit als Beweis besonderer Größe betrachtet, sein Zöllibat erhebt ihn zu einem besseren Menschen. Gesellschaftlich lässt sich leicht belegen, dass der zukünftige Kriegsgegner, also das ins Auge gefasste Opfer von Brudermorden im biologischen Sinn (da alle Menschen einer Art angehören, betrifft die Tötungshemmung ja alle anderen Menschen unabhängig von deren religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen) stets durch Propaganda herabgesetzt oder zum Untermenschen stilisiert wird und die eigene Staatszugehörigkeit als besserwertig dargestellt wird. Auch diese Methode der Herabwürdigung Andersdenkender ist ein vorgelagerter Abwehrmechanismus gegen die zu erwartende physiologische Schuldreaktion der Soldaten, die die Tötungen der Kriegsgegner vornehmen sollen. Im Rahmen dieser vorgezogenen Abwehr des Schuldgefühls werden die Religionen oder auch weltanschauliche Ideologien benutzt, um das zu erwartende Schuldgefühl der Ausführenden zu verringern. Die für das Nachtatverhalten geschilderte Schuldprojektion auf das Opfer wird hier bereits vorgezogen.

6. Tiefenpsychologische Folgerungen: Schuldgefühle als Reaktion auf Mordwünsche

Ich habe eingangs bereits darauf hingewiesen, dass auch die Psychoanalyse den Grundsatz der religionsgeprägten Kulturen teilt, dass sich der Mensch im „Naturzustand“, der Kindheit der Menschheitsentwicklung (Morgan), zunächst ungehemmt verhält und Triebsteuerung das Ergebnis eines Lernvorgangs sei. Triebbeherrschung ist danach die Reaktion auf eine Gewaltandrohung oder Strafandrohung der Gemeinschaft (Gens), der Gesellschaft (staatliche Gesetze), Gottes (religiösen Gebote), oder des Vaters (Kastrationsdrohung). Es ist danach die Angst vor physischem (Körperstrafen, Geldstrafen) oder seelischem Schmerz, die den Menschen zur Einhaltung gesellschaftlicher Umgangsnormen bewegt. Es bleibt auch bei der psychoanalytischen Betrachtungsweise allerdings völlig unklar, wie sich Angst (Schmerzvermeidung) in ein schlechtes Gewissen oder ein Schuldgefühl verwandeln soll. Geständnisse, die unter Folter, wie im Mittelalter oder in Abu Graib, erlangt werden, haben selbst gerichtlich keinen Bestand, weil das Individuum zur Schmerzvermeidung alles sagt, was der Folterer verlangt. Insoweit besteht weitgehend Einigkeit, dass Angst vor Schmerz zu Unterwerfung unter gesellschaftliche Gebote führt, aber der Bedrohte hat ja deshalb kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil, der Sohn, der aufgrund der väterlichen Kastrationsdrohung auf Onanie oder den Wunsch nach Besitz der Mutter verzichtet, erlebt Lustgefühl weiterhin als etwas Angenehmes und nicht als etwas Schlechtes, es sei denn, es handelt sich um eine moralisierende Erziehung, die angenehme Gefühle als Sünde definiert. Derartige Verbote und moralische Verknüpfungen sind jedoch widernatürlich und erzeugen im Kind Aggressionen, Hassgefühle und Todeswünsche auf den, der für so lustvolle Erlebnisse Strafe androht. Nach der hier von mir vorgestellten Theorie sind Schuldgefühle eine natürliche Folge von Tötungshandlungen an Mitmenschen. In Übereinstimmung mit der Psychoanalyse nehme auch ich an, dass das Unbewusste nun keinen Unterschied macht, ob ein Mord bereits tatsächlich oder nur in der Phantasie begangen wurde. Die von mir postulierte physiologische Schuldreaktion kann also bereits auftreten, wenn das Unbewusste des Kindes den Mord am Vater als phantasierte Wunscherfüllung begangen hat und nicht erst nach Realisierung der Tat. Das Schuldgefühl tritt also als Reaktion auf die Mordwünsche gegen den Aggressor auf, der Lust mit Kastration zu bestrafen droht.

Aber dieses physiologische Schuldgefühl tritt auch beim Erwachsenen auf, der tatsächlich einen Menschen getötet hat. Und dies ist völlig unabhängig von einer Strafandrohung. Ob das Strafrecht diese Tötung als Mord bewertet oder Folge einer kleinen Unachtsamkeit im Straßenverkehr (zu schnelles Fahren, wobei ein Mensch totgefahren wurde), ist für diese physiologische Schuldreaktion kein Maßstab. So fand ich bei einem Unternehmer, die einen anderen Menschen im Straßenverkehr getötet und dessen Ehefrau schwer verletzt hat ohne dafür bestraft zu werden, Schuldgefühl, depressive Verstimmung, Suizidimpulse bis zum erweiterten Suizid (Selbstmord unter Mitnahme seiner Kinder) und Angst, umgebracht zu werden. Auch der im Fallbericht ausführlich dargestellte Täter, der an der Verbrennung und Erschießung mehrerer Mitmenschen beteiligt war und anschließend noch schwerere Verfolgungsängste hatte, hatte keine gesetzliche Strafandrohung zu befürchten. Die bewusstseinsnahe Abwehr von Schuldgefühlen durch Schuldprojektion (der Kriegsgener hat Schuld) ändert nichts an der inneren Dynamik der biologisch verankerten Schuldreaktion (schlechtes Gewissen, Selbstvorwürfe, Projektion andere, die ihm Vorwürfe machen könnten, so dass Angst vor Überfällen auftritt, wie in diesem Fall).

7. Aktuelle Implikationen

Nach meiner Hypothese leidet der Mensch, der anderen Schmerz zufügt, zum Beispiel durch Anwendung von Folter, an seelischen "Schmerzen". Wird die Tötung vollendet, wird der Täter dauerhaft von schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen geplagt ("verfolgt"). Dies ist offensichtlich eine genetisch determinierte Reaktion zur Vermeidung der Tötung von Mitgliedern der Art und dient der Arterhaltung, im Tierreich ist die Tötungshemmung im Rivalenkampf bekannt. Selbst der moderne „Friedenseinsatz“ kann die seelische Problematik des an der Front kämpfenden und tötenden Individuums tatsächlich nicht beseitigen. Was an einem drastischen Fall des Bürgerkriegs exemplarisch gezeigt wird, kann auch für deutsche Soldaten, die inzwischen an vielen Orten der Welt eingesetzt werden, jederzeit real werden. Auch hier kann im Fall einer Tötung, besonders der Tötung eines Kindes oder einer Frau (eines "Zivilisten"), eine – wenn auch milder als im Fallbeispiel – physiologische Schuldreaktion erwartet werden. Und dies beim primär psychisch gesunden Soldaten. Definitionen von Politikern, die beispielsweise den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht als Kriegseinsatz bezeichnen wollen, spielen für die Psyche des betroffenen Soldaten gar keine Rolle. Dementsprechend werden posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) bei Rückkehrern aus Kriegseinsätzen beobachtet, so als wären die Täter Opfer. Die US-Armee setzt daher in letzter Zeit vermehrt sogenannte “Drohnen” ein, unbemannte Flugkörper mit Bomben, die von einem heimischen Computer gesteuert werden können, so dass die Leiden der Opfer dem Täter nicht mehr sichtbar sind (siehe SPIEGEL 41 vom 11.10.10 S.108ff). Diese tatsächliche Realitätsausblendung schützt offensichtlich vor der physiologischen Schuldreaktion und deren Folgen für die Gesundheit der Täter.  

Thomas Gabbert

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Literatur:

Hobbes, Thomas: Leviathan. Der Urzustand des Menschen. 1651.

Morgan, Lewis H.: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barberei zur Zivilisation.  Dietz. Stuttgart Berlin. 1891 (Original 1877)

Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Dietz Verlag Berlin. 1970. (Original 1884)

Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Goldmann-Taschenbuch. 1983. ISBN 3442075564. (Original 1887)

Ostwald, Wilhelm: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaften (Philosophisch-soziologische Bücherei, Band XVI). Verlag von Dr. Werner Klinkhardt. Leipzig. 1909.

Freud, Sigmund: Totem und Tabu. In: Studienausgabe Band IX, Seite 288 bis 444, S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main. ISBN 3108227092. Original 1912-1913.

Freud, Sigmund: Das ökonomische Problem des Masochismus. Studienausgabe Band III. 1975. ISBN 3108227033. Seite 339 ff. (Original 1924)

Reik, Theodor: Geständniszwag und Strafbedürfnis. In: Psychoanalyse und Justiz. Herausgegeben von Tilmann Moser. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1971. (Original 1925)

Alexander, Franz und Staub, Hugo: Der Verbrecher und sein Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. In: Psychoanalyse und Justiz. Herausgegeben von Tilmann Moser. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1971. (Original 1928)

Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. und 2. Band. suhrkamp. Frankfurt am Main. 1976.